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Reproduktives Entwerfen

21. April 2022

Wer kreativ tätig ist, arbeitet auf Basis eines erlernten Gestaltungswortschatzes. Für Architektinnen und Architekten etwa ist Baugeschichte im Idealfall eine gute Grundlage. Oft haben sie beim Entwerfen neuer Bauwerke Vorbilder, deren Gestalt und Form – bewusst oder unbewusst – in ein neues Werk fließen. Wie viel Vorbild dabei in neue Ideen einfließt, lässt sich steuern: indem man sich wissentlich historischer Referenzen bedient und diese auch benennt.


Von Thomas Geuder | Der Raumjournalist

 

In der Musikbranche kennt man das Phänomen allzu gut: Hier wird schon immer kopiert und transformiert, was das Zeug hält. Mehr noch galt es früher als eine Art Ritterschlag, von anderen, möglichst bekannteren Künstlern kopiert zu werden. Heute allerdings, wo mit Kopien teils Millionen umgesetzt werden, ist die Entlehnung einer Idee nur noch selten ein Kavaliersdelikt und in vielen Fällen ein Grund für einen Urheberrechtsstreit. In der Architektur ist man sich in dieser Hinsicht noch recht entspannt. Doch keine Architektin und kein Architekt wird sich davon lossagen können, nicht irgendwo zumindest „inspiriert“ worden zu sein. Wer behauptet, gänzlich frei entworfen zu haben, verschweigt etwas oder ist sich seines Repertoires schlicht nicht bewusst.

 


Entwurf:  Emily Paefgen, Parkplatz am Haus der Wirtschaft in der Manier der Architektin Eileen Gray
Bild:  © Emily Paefgen, HSRM Wiesbaden / Die Raumgalerie, Stuttgart

 

Einzigartige Architektur


Ab wann aber gelten ein Bauwerk oder Teile daraus als Kopie? Die rechtliche Lage ist eher grauzonig. Ja, es gibt ein Urheberrecht für Architekten, das jedoch auch sehr schwammig formuliert ist. Das Recht an der eigenen (Bau-)Idee ist in den meisten Fällen nur schwer beweisbar. Um das Thema Architekturkopie besser einordnen zu können, lohnt ein Blick wiederum in die Musik, in der es nicht einzelne Töne sind, die sich schützen lassen, sondern Ton- oder Akkordreihenfolgen, die zu einem wiedererkennbaren und einzigartigen Teilstück gefügt sind. Diese Einzigartigkeit gälte es in der Architektur zu beweisen.

 

Allem Groll über den Ideenklau zum Trotz ist die Ideenpiraterie in der Architektur möglicherweise schlicht irrelevant. Schließlich gilt in der Branche gerne der Grundsatz: Sei immer besser als die, die Dich kopieren. Die Kopie also als Mittel und Treiber des Wettbewerbs – ein charmanter Gedanke, der in der Architektur hoffentlich noch lange Gültigkeit haben wird.

 


Entwurf: Ole Burand, Mehringplatz in Berlin
Referenz: Hans Poelzigs Entwurf für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin 1921/22
Bild: © Ole Burand, HSRM Wiesbaden / Die Raumgalerie, Stuttgart

  

Durch Reproduktion zur neuen Idee


Vieles, was in der Architekturgeschichte bereits gedacht wurde, war damals gut und wäre es auch heute noch. An diesem Punkt setzt die Theorie des „Reproduktiven Entwerfens“ an, die im Jahr 2014 von den Architekten Georg Ebbing, Moritz Henkel, Philipp Rentschler und Ulrich von Ey entwickelt wurde. Mit ihrem Entwurfsprinzip bekennen sie sich zu allem in der Architekturgeschichte Vorhandenem und bedienen sich bewusst konkreter architektonischer Referenzen, um sie an anderer Stelle neu aufzuführen. Es soll ein stetiger Prozess sanfter Erneuerung sein, die Wiederaufnahme und Neukonstruktion von Traditionen mit zeitgenössischem Anspruch.
Formuliert haben sie ihren Ansatz in einem Manifest, das auf
www.reproduktivesentwerfen.de/wp/manifest/ heruntergeladen werden kann.

 

Gemeinsam mit Studierenden der Hochschule RheinMain produzieren sie seitdem immer neue Beispiele des reproduktiven Entwerfens. Heraus kommen spannende Entwürfe wie die Übertragung eines Entwurfs von Hans Poelzig eines Hochhauses am Bahnhof Friedrichstraße (Berlin 1921/22) an den Wilhelmsplatz in Stuttgart-Bad Cannstatt, die Füllung einer innerstädtischen Baulücke in Stuttgart nach der Manier von Eileen Gray oder den Entwurf eines Hauses der Musik nach dem Referenzentwurf eines Museums für zeitgenössische Kunst von Gottfried Böhm aus dem Jahr 1990. Manche mögen sich fragen: „Darf man das?“ Die Protagonisten würden antworten: „Ja, denn neue Bauten müssen nicht immer neu erfunden werden.“ Der Schatz an Entwürfen und Ideen aus der Architekturgeschichte sei derart groß, dass man sich gerne einmal bedienen darf.

 


Entwurf: Lukas Gehles, Haus der Musik in Stuttgart am Platz der Deutschen Einheit
Referenz: Gottfried Böhm, Museum für zeitgenössische Kunst, Stuttgart 1990 (nicht realisierter Wettbewerbsbeitrag)
Bild:  © Lukas Gehles, HSRM Wiesbaden / Die Raumgalerie, Stuttgart

 

Ausstellung in Stuttgart


Gezeigt werden aktuelle Arbeiten des reproduktiven Entwerfen ab 10. Mai 2022 im Stuttgarter Architekturforum „Die Raumgalerie“. Die Ausstellung stellt durchaus die Frage, wie viel Historie in einem Entwurf tatsächlich stecken darf und vielleicht sogar auch soll. Wäre es ein gangbarer Weg für Architekturschaffende, bewusst nach Vorbildern zu arbeiten und diese zu benennen? Und, was bedeutet das für das Vorankommen der Architektur an sich? Die Antworten darauf sind ebenso individuell wie die Entwürfe selbst. Allein sich diese Fragen zu stellen, ist enorm wichtig.

 


Bei einem „PAIRfect-Spiel“ in den Galerieräumlichkeiten können spielerisch bedeutende Referenzbeziehungen aufgedeckt und entdeckt werden. 
Foto: © Detlev Podehl, TU Dortmund/ Die Raumgalerie, Stuttgart

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